Ihre Browserversion ist veraltet. Wir empfehlen, Ihren Browser auf die neueste Version zu aktualisieren.

Was ist Psychosynthese?

Historisch betrachtet war die Psychosynthese zunächst eine Weiterentwicklung der Psychoanalyse Freuds und Analytischen Psychologie Jungs und etablierte sich noch vor dem zweiten Weltkrieg als eine der ersten Schulen der humanistischen Psychologie und Psychotherapie. Später formulierte ihr Gründer Roberto Assagioli gemeinsam mit seinen Kollegen Abraham Maslow, Viktor Frankl und anderen Pionieren die Notwendigkeit einer neuen Strömung, die die Psychoanalyse und Tiefenpsychologie (1. Kraft), die Verhaltenstherapie und den Behaviorismus (2. Kraft) und schließlich die humanistische Psychologie (3. Kraft) sinnvoll erweitert und ergänzt. Sie einigten sich auf die Bezeichnung "Transpersonale Psychologie" und gaben in den 60-er Jahren gemeinsam mit anderen Kollegen das "Journal for Transpersonal Psychology" heraus. Die Psychosynthese ist die umfassendste Therapieschule in der Geschichte der Transpersonalen Psychologie.

 

Entstehungsgeschichte der Psychosynthese

Roberto Assagioli, der 1888 in Venedig geboren wurde, war einer der innovativsten Tiefenpsychologen unter den Zeitgenossen Sigmund Freuds. Er entwickelte bereits Anfang des 20. Jahrhunderts den ersten transpersonal orientierten Ansatz der Psychologie und Psychotherapie, den er später Psychosynthese nannte.

Assagioli studierte Medizin in Florenz und wurde Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Zur selben Zeit beschäftigte er sich intensiv mit Psychologie, Philosophie, Buddhismus und abendländischer Mystik. Später lernte er unter anderem Sri Aurobindo, Lama Govinda, Rabindranath Tagore, Hermann Hesse, Alice Baily sowie Abraham Maslow und Viktor Frankl kennen. Nach der Begegnung von Hermann Hesse und Roberto Assagioli schrieb Hesse den Roman "Steppenwolf". Die Romanfigur ist hin und her gerissen zwischen zwei Persönlichkeitsteilen, mit denen sie sich abwechselnd identifiziert. Die Lösung, dass die menschliche Persönlichkeit nicht nur aus zwei, sondern aus vielen Teilen besteht, klingt in diesem Roman an, wird aber nicht weiter umgesetzt. 

Als italienischer Psychoanalytiker der ersten Generation formulierte Assagioli bereits 1909 die essenziellen Grundlagen seiner "Psychosynthese". Einige seiner Artikel sind auch in der von Freud gegründeten und herausgegebenen medizinischen Monatszeitschrift, dem Zentralblatt für Psychoanalyse, zwischen 1909 und 1910 erschienen. Freud würdigte seine Beiträge sehr und gestand, dass er selbst gerne in dieser Richtung weitergeforscht hätte, wenn er noch so jung wie Assagioli gewesen wäre. 

Seine Doktorarbeit war sein erstes Grundlagenwerk zur Psychosynthese. Im Jahre 1926, nach vielen Jahren eigener ärztlicher und therapeutischer Tätigkeit, gründete Assagioli das erste Psychosynthese-Institut in Rom. 12 Jahre später wurde es von den Nazis aufgrund seiner jüdischen Herkunft geschlossen, die ihn dann, genau wie Frankl, seiner Freiheit und Menschenwürde beraubten. Assagioli überlebte ebenso wie Frankl. Im Jahre 1944 eröffnete Assagioli sein neues Institut für Psychosynthese in Florenz. 1974 starb der Pionier der transpersonalen Psychotherapie im Alter von 86 Jahren.

 

Das Tiefenstruktur-Modell der Psychosynthese

Assagioli entwickelte eine umfassende und dennoch recht einfache Landkarte des Bewusstseins, die aufgrund seiner grafischen Darstellung als das "Ei-Modell" bekannt wurde. Er unterschied zunächst einmal zwischen der unterbewussten, "subpersonalen" Ebene mit den Trieben, Automatismen, verdrängten Komplexen, Ängsten und "Teilpersönlichkeiten", der personalen Ebene mit dem Ich-Bewusstsein im Zentrum, dem persönlichen Willen und den Ich-Funktionen, und der "überbewussten" Ebene mit dem "Transpersonalen Selbst", das diese durchstrahlt. Letzteres ist unser essenzielles Wesen, das uns beseelt, lieben und lebendig sein lässt. Es ist unsere innere Heimat, unser Ursprung, wohnt uns inne ohne Form, Namen und Geschichte. Es kann mit dem rationalen Verstand nicht erfasst oder erkannt, wohl aber in der tiefen Meditation erfahren und bezeugt werden. 

Ferner unterschied er auf der personalen Ebene zwischen dem Ich in der Mitte, welches als das subjektive Zentrum von Selbstbewusstsein, Wahrnehmung, Aufmerksamkeits- und Handlungssteuerung bzw. Selbstregulation ausfindig gemacht und genutzt werden kann, dem Bewusstseinsfeld, in dem alle spontan auftretenden Wahrnehmungsinhalte beobachtet und erkannt werden und dem mittleren Unbewussten, das mit dem Freudschen "Vorberwussten" identisch ist und das alle latent vorhandenen Gedanken, Gefühle und sonstigen Informationen für die bewusste Verarbeitung bereit hält.

  

Das Ei-Modell der PsychosyntheseDas Ei-Modell der Psychosynthese

1. Das untere Unbewusste  bzw. Unterbewusste     (z.B. Triebe und Instinkte)

2. Das mittlere Unbewusste (z.B. Gedanken      und Gefühle)

3. Das höhere Unbewusste bzw. Überbewusste            (z.B. Liebe und Weisheit)

4. Das Bewusstseinsfeld (bewusste    Wahrnehmungen, Erkennen)

5. Das personale Selbst (=Ich)

6. Das transpersonale Selbst (=Seele)

7. Das kollektive Unbewusste(z.B. Archetypen)

 

 

  

Der Therapieansatz

Roberto Assagioli unterschied zwischen personaler, interpersonaler und transpersonaler Psychosynthese. Die personale Psychosynthese beinhaltet die gründliche Analyse, Integration und Transformation der Teilpersönlichkeiten sowie die Schulung des Willens und der Ich-Funktionen. Mit den Methoden der interpersonalen Psychosynthese werden die Kooperation und Synthese von Wille und Liebe, die Transformation ihrer Verzerrungen und die vielfältigen Ausdrucksformen essenzieller Qualitäten gefördert. Die transpersonale Psychosynthese zielt auf die Kooperation und Synthese von Ich und transpersonalem Selbst ab, somit auch auf die Kooperation von Mensch und Evolution. 

Obwohl schon in der personalen und interpersonalen Psychosynthese bereits meditative und kontemplative Verfahren, Imaginationen und Visualisierungen, zulassende wie auch evokative Verfahren zum Einsatz gelangen, gibt es noch den ausschließlich spirituellen Bereich der transpersonalen Psychosynthese, in dem sich das von Störungen und Behinderungen freie personale Selbst mehr und mehr auf das transzendente, transpersonale Selbst hin ausrichtet. Assagioli betont jedoch auch, dass nicht alle Menschen zur transpersonalen Psychosynthese bereit sind:

“Ob wir das universelle Leben nun als göttliches Wesen oder als kosmische Energie betrachten, wir scheinen zu spüren, dass der Geist, der in allen Geschöpfen lebt und durch es wirkt, es in eine Ordnung, Harmonie und Schönheit formt und dabei alle Wesen miteinander durch Bande der Liebe vereint (einige davon bereitwillig, die Mehrheit jedoch noch blind und sich auflehnend), um damit langsam und ruhig, aber machtvoll und unwiderstehlich, die Höchste Synthese zu erreichen” (Assagioli, 1978, S. 47).

Die Methoden der Psychosynthese sind sehr vielfältig und tiefgründig und würden an dieser Stelle den Rahmen sprengen. Für Interessierte und Fachkollegen ist die Originalliteratur von Roberto Assagioli zu empfehlen.

Siehe auch: Assagioli

 

Psychosynthese-Kritik 

Mit guten Gründen ist der Psychosynthese aber auch viel Kritik entgegen gebracht worden. Ich möchte die wichtigsten 3 Kritikpunkte zusammenfassen:  

1) Roberto Assagioli hat, wie auch schon Sigmund Freud, keine empirische Forschung betrieben oder veranlasst. Der Unterscheid zur Psychoanalyse ist jedoch, dass auch nach seiner Zeit bis heute keine ernstzunehmende empirische Forschung in der Psychosynthese stattgefunden hat. Nachweise der therapeutischen Wirkungen stehen also immer noch aus. 

2) Die Konzepte der Psychosynthese, vor allem das transpersonale Selbst und das Überbewusste, sind für die Ideenwelt der modernen Wissenschaft, insbesondere der Psychologie, schwer zugänglich und auch nicht unbedingt zwingend notwendig, um den Sinn dahinter zu transportieren. Erschwerend kommt hinzu, dass sich Psychosynthese-Lehrende bzw.  -Ausübende oftmals gar nicht einig sind, was genau sich hinter diesen Begrifflichkeiten verbirgt. Vor allem dann, wenn sie über wenig oder keine (langjährige, tiefe) Meditationserfahrung verfügen, neigen sie dazu, das "transpersonale Selbst", das "Überbewusste", das  "personale Selbst" und die "Teilpersönlichkeiten" als objektive Dinge (oder Orte) zu betrachten, anstatt als subjektive Bewusstseinsebenen. Wenn sie wie Symbole auf einer Landkarte betrachtet werden, um einen Hauch von Orientierung zu erhalten, können sie hilfreich sein. Für viele sind diese Begriffe einfach nur nette, schöne, aber allzu abstrakte Konzepte bzw. Objekte des Denkens. Assagioli ist für dieses Missverständnis allerdings auch nicht ganz unschuldig, denn in seiner transpersonalen Psychosynthese gibt es eine Übung, bei der man sich mit diesem transpersonalen Selbst identifizieren soll. Dagegen geht es in der transpersonalen Verhaltenstherapie z.B. darum, jegliche Identifikation zu überwinden und eben nicht einfach unschöne gegen schönere oder ungeschliffene gegen erhabenere Identifikationen auszuwechseln. Überhaupt ist das Gesamtkonzept der Psychosynthese, Teilpersönlichkeiten auseinanderzunehmen, zu bearbeiten und für den Aufbau einer neuen Persönlichkeit wieder neu zusammenzusetzen oder eventuell auch durch neue Teilpersönlichkeiten, die man dann noch erschafft, zu ergänzen, aus heutiger Sicht ziemlich fragwürdig. Denn erstens ist eine Persönlichkeit nicht bei jedem Menschen fragmentiert, zweitens können Persönlichkeitsteile nicht einfach ausgewechselt oder neu erschaffen werden und drittens erhält man eine vollständige heile Seele nicht einfach durch das Zusammensetzen von schön geschliffenen und polierten Persönlichkeitsteilen. Mit anderen Worten: Die Psychosynthese bräuchte selbst dringend eine Generalüberholung, und vielleicht auch eine mentale Entschlackung. 

3) Die heutige Psychosynthese-Szene wird nicht von studierten Psychologen, Medizinern oder professionell ausgebildeten, akademischen Psychotherapeuten dominiert und angeführt, sondern von Menschen, die auf dem zweiten Bildungsweg einen Heilpraktiker-Schein gemacht haben, als Lebensberater, Coach, Leadership-Trainer, Heiler oder spiritueller Lehrer auftreten, oder aber Akademiker sind, die aus einem ganz anderen Fachbereich kommen, wie bspw. Wirtschaftswissenschaft, Politikwissenschaft oder Jura. Der Teilnehmer einer Psychosynthese-Ausbildung kann sich schon sehr glücklich schätzen, wenn sein Psychosynthese-Lehrer wenigstens ein mit der Psychologie verwandtes humanwissenschaftliches Studium wie Pädagogik, Philosophie oder Soziologie abgeschlossen hat. Auch kann er froh sein, wenn sein Ausbilder selbst eine mindestens 3-jährige Ausbildung in Psychosynthese absolvierte und dabei alle Anforderungen und Formalien erfüllte. Denn auch das ist nicht selbstverständlich. 

Das Problem und der Grund für die mangelnde Akzeptanz der Psychosynthese an den Universitäten ist aus meiner Sicht weniger in der Einführung spiritueller Ideen oder Konzepte durch Assagioli zu sehen, sondern vielmehr in der Art und Weise, wie die (fachfremden) Schüler der Schüler von Assagioli die Psychosynthese in Misskredit gebracht haben, indem sie sie verwässerten und mit allerlei Esoterik, Coaching- und Leadership-Allüren, psychologischem Laien- oder Halbwissen und eigenen menschlichen Unzulänglichkeiten vermischten. 

 

Literatur:

Assagioli, R. (1978): Psychosynthese - Prinzipien, Methoden und Techniken. Aurum Verlag, Freiburg i.B.

Assagioli, R. (1992): Psychosynthese und transpersonale Entwicklung. Junfermann Verlag, Paderborn.

Assagioli, R. (1982): Die Schulung des Willens. Methoden der Psychotherapie und der Selbsttherapie. Junfermann-Verlag, Paderborn.