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Roberto Assagioli  (1888-1974)

 

Von spirituellen Aspekten in den Arbeiten Assagiolis zu sprechen, mutet in Anbetracht seines Lebenswerkes, der Psychosynthese, als Untertreibung an. Er kann als der erste Psychiater und Schulenbegründer bezeichnet werden, der einen explizit transpersonal orientierten Ansatz der Psychotherapie entwickelt hat, in dem die Integration von psychischer Gesundheit und spiritueller Entwicklung als ausdrücklich formuliertes, übergeordnetes Ziel angestrebt wird.

Roberto Assagioli wurde am 27. Februar 1888 in Venedig geboren. Er studierte Medizin in Florenz und wurde Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Zur selben Zeit beschäftigte er sich intensiv mit Psychologie, Philosophie und Mystik. Später lernte er unter anderem die indischen Weisen Sri Aurobindo und Lama Govinda, den indischen Dichter Rabindranath Tagore, Viktor Frankl und Abraham Maslow kennen. Als italienischer Psychoanalytiker der ersten Generation formulierte er bereits 1909 die essenziellen Grundlagen der Psychosynthese. Einige seiner Artikel sind auch in der von Freud gegründeten und herausgegebenen medizinischen Monatszeitschrift, dem „Zentralblatt für Psychoanalyse“, zwischen 1909 und 1910 erschienen. Sigmund Freud war tief beeindruckt von Assagiolis Werken.

Seine Doktorarbeit war sein erstes Grundlagenwerk zur Psychosynthese. Im Jahre 1926, nach vielen Jahren eigener ärztlicher und therapeutischer Tätigkeit, gründete Assagioli das erste Psychosynthese-Institut in Rom. 12 Jahre später wurde es von den Faschisten aufgrund seiner jüdischen Herkunft geschlossen, die ihn dann, genau wie Frankl, einige Zeit seiner Freiheit und Menschenwürde beraubten. Im Jahre 1944 eröffnete Assagioli ein neues Institut für Psychosynthese in Florenz. 1974 starb Assagioli im Alter von 86 Jahren.

Das Psychosynthese-Modell von Assagioli integriert viele Aspekte der Ansätze von Jung,  Rogers, Maslow und Frankl, obwohl es bereits etwa zur gleichen Zeit wie Jungs Modell vom kollektiven Unbewussten entstanden ist. Da beide auch in schriftlichem Austausch standen, ist eine gegenseitige Beeinflussung nicht auszuschließen. Anders als Jung hat Assagioli klarer unterschieden zwischen den ursprünglichen Archetypen und ihren Verzerrungen. Assagioli hat nur dann von Archetypen gesprochen, wenn es sich um die reinen, essenziellen Qualitäten handelte. So sind die Archetypen bei Assagioli ausschließlich spiritueller Natur. Auch sind sie nicht die Symbole, sondern die dahinter verborgenen Qualitäten, vorbegrifflich, grundsätzlich erfahrbar und jenseits von Form. Die beiden wesentlichsten Archetypen nach Assagioli sind Wille und Liebe. Alle anderen lassen sich als Aspekte oder Ausdrücke dieser beiden Qualitäten verstehen. Kraft, Stärke, Mut, Ausdauer und Entschlossenheit sind z. B. verschiedene Aspekte des Willens, während Hingabe, Mitgefühl, Verbundenheit, Leidenschaftlichkeit, Demut und Einheit verschiedene Ausdrucksformen und Erlebnisweisen von Liebe darstellen. Mischformen des Willens und der Liebe sind auch möglich und weisen schon in die Richtung, die Assagioli verfolgte: Synthese.

Grundsätzlich unterscheidet Assagioli zwischen personaler und transpersonaler Psychosynthese. In der Personalen Psychosynthese werden die fragmentierten Teile der Persönlichkeit, die er Teilpersönlichkeiten nennt, erforscht, integriert und transformiert. Diese Teilpersönlichkeiten bestehen aus unterbewussten, bewussten und überbewussten Anteilen. Die unterbewussten Anteile sind meistens der Grund ihrer Verdrängung oder Abspaltung, analog zur Psychologie Jungs: unangenehme und unerwünschte Wesenzüge werden nicht akzeptiert und folglich verdrängt, abgespalten oder nach außen projiziert. Eine Teilpersönlichkeit hat jedoch im Unterschied zu einem Komplex auch immer transpersonales, überbewusstes Potenzial, das ebenfalls verdrängt, abgespalten und nach außen projiziert werden kann. Die Verdrängung transpersonaler Qualitäten wie Kreativität, Freude und Einfachheit kann ebenso wie die Verdrängung der Komplexe zu Depressionen oder anderen neurotischen Störungen führen. Grundsätzlich ist aber jeder neurotische Persönlichkeitsteil, sei es der innere Perfektionist oder der verantwortungslose Abenteurer, in seiner innersten, essenziellsten Qualität gesund und vollkommen. Dieser Gedanke ist bei Assagioli neu und zentral, denn er bietet die Grundlage für die Transformation. Bei Jung und Rogers endet der therapeutische Prozess mit der Integration. Der verdrängte Inhalt oder vom Idealbild abgespaltene Aspekt der Persönlichkeit wird erkannt, akzeptiert und integriert. Assagioli hat noch zwei weitere Stufen anzubieten: Transformation und Synthese (vgl. Assagioli, 1988).

Um die Transformation einzuleiten, muss der Blick durch die äußere Erscheinungs- und Erlebnisform einer Teilpersönlichkeit, also durch die Verzerrung hindurch- und zur essenziellen Qualität vordringen. Was transformiert wird, ist die äußere Form, die Entstellung, die dafür verantwortlich ist, dass diese Teilpersönlichkeit bisher noch nicht wieder integriert werden konnte. Denn die Verzerrungen oder Entstellungen haben allesamt die Tendenz zur Fragmentierung gemeinsam. Daher kann davon ausgegangen werden, dass ohne Transformation die Integration eines verdrängten Teiles nicht von Dauer sein kann. In den humanistischen Therapieformen mag die Transformation in einigen Fällen unter günstigen Umständen auch stattfinden, doch wenn sie nicht bewusst beabsichtigt wird, bleibt sie eher dem Zufall überlassen. Die Transformation setzt die Integration voraus, denn solange der bislang unterdrückte, verurteilte, nichtgewollte und unangenehme Teil auch weiterhin nicht akzeptiert und schließlich in das eigene Selbstbild integriert wird, kann die darin enthaltene „dunkle Seite“ auch nicht verwandelt werden. Transformation erfordert jedoch noch eine neue, transpersonale Sichtweise. Angst ist nicht bloß eine unangenehme Emotion, die zum Leben dazugehört, sondern verdeckt auch ein ungelebtes, transpersonales Potential. Wenn dieses zum Ausdruck kommt und gelebt wird, ist die Angst überflüssig geworden und löst sich auf. Synthese bedeutet, dass keine Angst mehr besteht, die verdeckten oder verzerrten essenziellen Qualitäten wieder frei durch das Selbst fließen können und die Fragmentierungen der Persönlichkeit überwunden sind. Daher ist Synthese mehr als Integration. Neurotische Todesangst ist nach dem Psychosynthese-Modell z. B. als verzerrte Liebe zum eigenen Leben zu verstehen. Wut ist verzerrter Wille, der an der richtigen Stelle, zur richtigen Zeit und auf die rechte Art und Weise nicht zum Ausdruck kam. Die Personale Psychosynthese ist erfüllt, wenn alle Teilpersönlichkeiten von allen Verzerrungen befreit wurden und als Qualitäten, Stärken und Kompetenzen dem individuellen Bewusstseinszentrum frei zur Verfügung stehen.

Obwohl bereits in der Personalen Psychosynthese transpersonale Ansätze und Methoden zur Anwendung gelangen, wie z. B. meditative und kontemplative Verfahren, Imaginationen und Visualisierungen, zulassende wie auch evokative Verfahren, gibt es noch den ausschließlich spirituellen Bereich der Transpersonalen Psychosynthese, in dem sich das von Störungen und Behinderungen freie, Personale Selbst mehr und mehr auf das transzendente, Transpersonale Selbst hin ausrichtet. 

Assagioli betont jedoch auch, dass nicht alle Menschen zur Transpersonalen Psychosynthese bereit sind:

„Ob wir das universelle Leben nun als göttliches Wesen oder als kosmische Energie betrachten, wir scheinen zu spüren, dass der Geist, der in allen Geschöpfen lebt und durch es wirkt, es in eine Ordnung, Harmonie und Schönheit formt und dabei alle Wesen miteinander durch Bande der Liebe vereint (einige davon bereitwillig, die Mehrheit jedoch noch blind und sich auflehnend), um damit langsam und ruhig, aber machtvoll und unwiderstehlich, die Höchste Synthese zu erreichen“ (Assagioli, 1988, S. 47).

Sie ist daher eine spezielle Erweiterung für solche, die mehr für ihr Leben beabsichtigen, als einfach nur glücklich, zufrieden und erfolgreich zu sein. Sie entspricht etwa der Unterscheidung zwischen Selbsttranszendenz und Selbstaktualisierung bei Maslow. Die Prozesse von Personaler und Transpersonaler Psychosynthese können jedoch, anders als der Bedürfnispyramide Maslows entsprechen würde, auch parallel laufen. Die Erweiterung des Bewusstseinsfeldes, über die Grenzen der alten Identität hinaus, kann z. B. die Überwindung von Ängsten und Problemen sehr beschleunigen. Die Motivation in der Transpersonalen Psychosynthese geht jedoch immer vom Transpersonalen Willen aus, den Assagioli in dem Zitat weiter oben als Geist bezeichnet hat und dessen Absicht die höchste Synthese ist. Dieser Heilungsprozess bezieht das kollektive Unbewusste mit ein, denn das eigene Wohl und das Wohl der Menschheit sind auf dieser Ebene nicht mehr zu trennen. Assagioli beschreibt, wie die Bewusstseinserweiterung bereits Teil des individuellen und kollektiven Heilungsprozesses ist:

„Eine der häufigsten Ursachen von Leid und Fehlverhalten ist die Angst, sowohl die individuelle Angst als auch die kollektiven Ängste, die die Menschen sogar in einen Krieg treiben können. Nun bringt die Erfahrung der überbewussten Realität die Angst zum Erlöschen. Jegliches Gefühl von Angst ist unvereinbar mit der Erkenntnis der Fülle und Dauerhaftigkeit des Lebens“ (Assagioli, 1992, S. 31). Das gleiche gilt auch für die Aggressivität: „Ein weiterer Urherd menschlichen Übels und menschlicher Fehler ist die Kampflust, die sich auf das Abgrenzungsbedürfnis, die Aggressivität und die Gefühle der Feindseligkeit und des Hasses gründet. In der friedlichen Atmosphäre des Überbewussten können solche Impulse und Gefühle nicht bestehen. Ein Mensch, dessen Bewusstsein erweitert ist, der am Leben teilnimmt und der ein Gefühl des Einsseins mit allen Wesen verspürt, kann nicht mehr kämpfen. Es wäre für ihn etwas Absurdes, es wäre wie ein Ankämpfen gegen sich selbst! Durch die Entwicklung, die Erweiterung und den Aufstieg des Bewusstseins zu einer höheren Realität werden so die schwierigsten und beängstigendsten Probleme gelöst und beseitigt“ (Assagioli, 1992, S. 31).

Ziel der Transpersonalen Psychosynthese, die Assagioli mit einer Bergbesteigung vergleicht, ist „die Vereinigung des individuellen Bewusstseinszentrums mit dem spirituellen Selbst“ (Assagioli, 1992, S. 43). Das individuelle Bewusstseinszentrum bezeichnet er auch als das Personale Selbst oder bewusste Ich, das spirituelle Selbst auch als das höhere Selbst (s. Abb. 2). Assagioli fährt fort: „Der ‚Stern’, der in unserem Schema das spirituelle Selbst repräsentiert, liegt teilweise innerhalb und teilweise außerhalb des Ovals; dies deutet darauf hin, dass das Selbst sowohl an der Individualität als auch an der Universalität teilhat, also mit der transzendenten Wirklichkeit in Verbindung steht“ (Assagioli, 1992, S. 43).

Auf der langen Bergbesteigung zum Gipfel sind alle Kräfte erforderlich, die bisher entwickelt wurden, sowohl die personalen, wie auch die transpersonalen. Währenddessen gibt es anstrengende Passagen zu überwinden, aber auch schöne Aussichten zu genießen. Letztere sind die Transpersonalen Erfahrungen. Es ist nicht so, dass der Mensch erst dann für die Welt zum Diener wird, wenn er am Gipfel angekommen ist. Jede echte Transpersonale Erfahrung ist von einem bleibenden Wert, der auch immer die Umwelt positiv beeinflusst, sowohl passiv wie aktiv:

„Eine weitere Auswirkung dieser Erfahrungen ist das inspirierte Handeln, der kraftvolle Impuls zur Aktion: das Ausdrücken, Ausströmen, Ausstrahlen und Andere-teilhaben-Lassen an den selbst entdeckten und empfangenen Schätzen. Und dann die Zusammenarbeit mit allen Menschen guten Willens, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, eine Zusammenarbeit, die darauf zielt, das Dunkel der Unwissenheit, das die Menschheit umgibt, aufzulösen, die Konflikte beizulegen, die sie zerfleischen und die Geburt einer neuen Zivilisation vorzubereiten, in der die Menschen einig und glücklich sein und das wunderbare latente Potential, mit dem sie gesegnet sind, verwirklichen mögen“ (Assagioli, 1992, S. 44).

Ein Schritt in diese Richtung ist bereits die Interpersonale Psychosynthese. Assagioli hat zahlreiche Methoden entwickelt, mit denen die eigenen interpersonalen Kompetenzen verbessert werden können und zudem das transpersonale Potenzial in die eigenen Beziehungen und sozialen Bezüge hineingebracht und aktualisiert werden kann (vgl. Assagioli, 1988).

Assagiolis Verdienst ist vor allem darin zu sehen, dass er bereits in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts die wichtigsten Gedanken der Transpersonalen Psychologie in einem integralen Persönlichkeitsmodell zusammenfasste und die erste transpersonale Therapieschule gründete. Die Unterscheidung zwischen einem unteren Unbewussten bzw. Unterbewussten, das dem Freudschen Unbewussten entspricht, einem mittleren Unbewussten, das das Bewusstseinsfeld mit dem Ich oder Personalen Selbst in der Mitte umgibt und dem höheren Unbewussten bzw. Überbewussten, das von dem spirituellen, Transpersonalen Selbst durchstrahlt wird, ist eine Landkarte, die bei vielen anderen transpersonalen Theoretikern (z.B. Scharfetter, 2000) mindestens ein halbes Jahrhundert später in fast gleichen Begriffen wieder auftauchte. Auch der Kerngedanke der Verzerrung essenzieller, transpersonaler Qualitäten in der mehr oder weniger neurotischen, ich-zentrierten Persönlichkeitsstruktur und ihre Möglichkeit zur Transformation ist in späteren Ansätzen unter neuen Namen wiederzufinden (z. B. Almaas, 1997). Die Terminologie des Psychosynthese-Modells ist transkulturell und drückt im wesentlichen die Kerngedanken christlicher, buddhistischer, hinduistischer und islamischer Mystik aus.

 

 Literatur 

Assagioli, R. (1978): Psychosynthese - Prinzipien, Methoden und Techniken. Aurum Verlag, Freiburg i.B.

Assagioli, R. (1992): Psychosynthese und transpersonale Entwicklung. Junfermann Verlag, Paderborn.